Bernhard Sprute »System Bilder« Manfred Strecker

Die Bilder Sprutes, angelegt seit jeher auf "Fülle" und "Überfülle", haben sich noch einmal verdichtet. Der Tatbestand des visuellen Chaos, das uns aus den Bildern Bernhard Sprutes erst einmal entgegen kommt, erstaunt um so mehr, wenn man diesem visuellen Eindruck den Titel entgegenhält, den Sprute dieser Werkgruppe oder den einzelnen Werken gibt: "System".

Bei dem Begriff "System" denken wir an Beziehungen von Elementen und an Prozesse zwischen ihnen, an Wirkungsketten und an Rückkopplungen. Wir kennen einfache Systeme - ein Thermostat und eine Heizung zum Beispiel, die für eine gleichmäßige Raumtemperatur sorgen; wir kennen äußerst komplizierte Systeme - die Welt, in der wir leben zum Beispiel, von der wir ein Teil sind, in die wir eingreifen und die uns am Leben erhält. Systeme sind also nicht so ohne weiteres wohlgeordnet, oder wenn es eine Ordnung gibt, wird sie uns nicht sofort sichtbar - wie auf den Bildern Sprutes.

Woraus die Spruteschen Systeme bestehen, das gilt es zunächst einmal herauszustellen. Wir haben von Sprutes Systembildern, um es zu wiederholen, zunächst einmal den Eindruck eines lebendigen Chaos, voll wuchernder, fliehender, ausufernder Vorgänge, voll von angedeuteten Bewegungen mit unabsehbaren Richtungen. Schaut man näher hin, so lassen sich - mal leichter, mal schwerer - wiedererkennbare Formen identifizieren, viele von pflanzlich-organischer Art. Blätter erkennen wir oder Blatt- und Rankengeflechte, Blumen und Blüten mit unterschiedlichem Blätterstand und aufragenden Samengefäßen; gelegentlich geraten uns kugelförmig verknäulte Linienbündel in den Blick - Gebilde also, die wir vielleicht nicht so genau einzuordnen vermögen, die aber dennoch organisch Sinn zu ergeben scheinen.

Aber nicht nur organische Formen gehören zum Formenrepertoire Sprutes. Zuweilen ziehen sich Strukturen in und durch die Bilder, Strukturen, die geometrisch geordnete Muster ergeben - Punkte, die wir zu einem Punktraster zusammensehen, Linien, senkrecht und waagerecht angeordnet, die einen Zeilen- und Rubrikenraster ergeben, manchmal auch Wabenstrukturen, also eine penibel geordnete Architektur, auf die sich die Bienen instinktiv verstehen. Keine dieser Formen ist realistisch durchgearbeitet, die Formen sind vereinfacht dargestellt. Sprute verwendet Formen in höchster Abstraktion, sozusagen als Schema oder als "Klischee", wie er es selbst gelegentlich nennt. Ja, Sprute informiert sich sogar in den Standardwerken der Pflanzenbiologie, er lässt sich von den Grundformen von Blatt- und Blütenstand inspirieren, nach denen die Blumen morphologisch zu Klassen zusammengefasst werden.

Worauf geht das alles zurück, mag man sich fragen. Worin besteht der künstlerische Hintergrund? Die lange und bis heute anhaltenden, viele Kulturkreise übergreifenden künstlerischen Traditionen, auf die sich Sprute dabei bezieht - formal und den Motiven nach -, das sind die künstlerischen Traditionen des Ornaments. Seit jeher nutzen Künstler pflanzlich-organische Abstraktionen, die sie zu Ornamenten anordnen. Die ägyptische Kunst etwa die Palmette, ein stilisiertes Palmblatt, die griechische Kunst unter vielem anderen natürlich den Akanthus, das Blätterwerk des Bärenklau, das am bestens bekannten korinthischen Säulenkapitell in einem Blätterkelch ausmündet. Eine besondere Vorliebe zeigt Sprute für die Arabeske, die aus symmetrischen oder frei wuchernden Blatt- und Blütenranken besteht und die - fortlaufend aneinander gereiht - einen kreisenden Bewegungsfluss simuliert. Die Arabeske ist ein orientalisches Erbe, sie war in der islamischen Kunst streng stilisiert worden und ist in der Renaissance von dort in die europäische Kunst eingewandert.

Warum benutzt Sprute das Ornament, warum spielt er mit pflanzlichen Formabstraktionen? Wenn wir fast hundert Jahre zurückgehen, erhalten wir von dem Kunsthistoriker Wilhelm Worringer Auskunft. Worringer hatte 1907 eine wirkungsmächtige und fulminante Dissertation mit dem Titel "Abstraktion und Einfühlung" an der Universität Bern eingereicht. Die theoretischen Frontstellungen, an denen sich Worringer damals abarbeitete, sind heute nicht mehr maßgeblich. Aber die ästhetische Wirkungskraft, die er in der Pflanzenornamentik erkennt und erschöpfend beschreibt, hat nichts von ihrer Energie eingebüßt, wie wir es an Sprutes Bildern sehen. Worringer schreibt: Die organische Gesetzmäßigkeit, die den Künstlern zum Motiv werde, zeige sich am reinsten und anschaulichsten in der Pflanzenbildung. Und nun im wörtlichen Zitat: "Alle die Elemente organischer Bildung, als da sind: Regelmäßigkeit, Anordnung um einen Mittelpunkt, Ausgleich zwischen zentrifugalen und zentripetalen Kräften (d. h. kreisförmige Rundungen), Gleichgewicht zwischen tragenden und lastenden Faktoren, Proportionalität der Verhältnisse und all die übrigen Wunder, die sich uns bei der Versenkung in den Organismus einer Pflanze aufdrängen, sie sind es, die nun den Inhalt und den lebendigen Wert des ornamentalen Kunstwerks ausmachen." Was Worringer hier nennt und aufführt, all diese Wunder, ausgearbeitet im Organismus der Pflanze, finden wir in Sprutes Bildern wieder. Und auch noch mehr wird in dieser Aufzählung angesprochen. In der Pflanzenorganisation liegen auch System schaffende Beziehungen: Anordnung um einen Mittelpunkt zum Beispiel, was Worringer erwähnt, wie es die Blume mit Blatt- und Blütenstand zeigt. Oder der Ausgleich zentrifugaler und zentripetaler Kräfte, die kreisförmige Anordnung als Zentren gesammelter oder vibrierender Energie erscheinen lassen, je nachdem, ob sich die gegensätzlichen Kräfte in einem stabilen Gleichgewicht befinden oder ob dieser Ausgleich von Sekunde zu Sekunde neu in Frage gestellt wird und neu austariert werden muss und es zu einem Oszillieren der Ausgleichsbewegungen kommt.

Doch auch das Ornament selbst als malerisches Kompositionsschema ist eine Organisationsform mit systembildender Kraft. Ein Ornament entsteht aus der Wiederholung seiner Grundformen, das Ornament bildet Rhythmen durch die Repetitionen der Form und erzeugt rapportierende Muster - die ohne sinnfälligen Anfang sind, noch ein sinnfälliges Ende besitzen, so dass Ornamente eigentlich aus dem Endlosen kommen und sich ins Endlose fortsetzen. Und auch Sprutes Bilder bilden nur Ausschnitte ab, was darin geschieht, kommt von irgendwo her und setzt sich sozusagen imaginär über die Begrenzung des Bildes hinweg fort. Auch daher rührt der Eindruck, dass wir es bei dem, was uns Sprute in seinen Bildern darstellt, mit einem kosmischen Prozess, mit Weltenentstehung und Weltenvergehen zu tun haben.

Systembildung geschieht auf Sprutes Bildern natürlich auch durch das Handwerk der Malerei selbst, aus den ingeniös angewendeten Regeln der Komposition, in denen sich Erfahrungen aus Jahrhunderten der Malerei niederschlagen. Und nicht nur das. Sondern auch die Erfahrungen eines gediegenen Malerlebens, das Sprute führt. Es handelt sich dabei um Regeln, die man meist nur sehr abstrakt nennen kann und die man an den Bildern im Einzelnen demonstrieren müsste. Regeln etwa der Art: Wenn ich rechts unten im Bild eine schwer wirkende Form setze, muss ich Ausgleich schaffen, vielleicht oben links. Sprutes Bilder veranschaulichen Dynamik, aber überall bringt Sprute auch Ausgleichsbewegung ins Spiel, Gegensätze, die sich gegeneinander ausbalancieren oder in ein vibrierendes Gleichgewicht bringen. Schweres steht Leichtem gegenüber; Undurchdringliches Transparentem, Durchsichtigem; dem Zufällig wirkenden das Ordentlich wirkende, der angeschnittenen Form die volle Form. Das zentrale Bildmotiv Sprutes, die Blume, scheint durch und durch auf der heiteren, bejahenden, verheißungsvollen Seite des Lebens zu stehen. Ich möchte dazu ein Zitat von Rudolf Borchardt heranziehen, ein Publizist des 20. Jahrunderts, der heute nur noch wenig bekannt ist, der aber - für Gartenliebhaber ein Muss - ein tiefsinniges Gartenbuch unter dem Titel "Der leidenschaftliche Gärtner" geschrieben hat. Borchardt schreibt in einer heute geziert wirkenden Sprache, dass die Blume die Gestalt sei, "in der sich die Pflanze zur Liebe rüstet und ihr Brautfest hält". Dieser Gestaltwechsel der Blume komme dem Lebenszyklus des Menschen nahe und auch der Jahreszeit des Frühlings, an dem er sich vollzieht. Zitat: "Der Frühling, die Blume, die Liebe, sind eine der Menschenseele, ohne allen Beweis im Erleben, heilige angeborene Trinität." Darin verkörpert sich für Borchardt auch "eine mit der neuen Jahreszeit des Frühlings ausbrechende Urgewalt der sich erneuernden Schöpfung". Das Spiel dieser Urgewalt inszeniert Sprute in seinen Bildern, eine positive Utopie der Lebenskraft. Was im Übrigen nicht ausschließt, dass Bernhard Sprute nicht auch schwierige, riskante Lebensprozesse in seinen Systembildern aufgreift, die keines- wegs kosmische Freuden im Spiel der Naturkräfte sicher erwarten lassen. Doch das wäre ein Kapitel in Sprutes Kunst, das man an einem anderen Tag aufschlagen könnte.

Dr. Manfred Strecker, Leiter der Kulturredaktion der Neuen Westfälischen Zeitung in Bielefeld 2003.