»Dahinter Dornröschen« Hanna Dose

Eröffnungsrede anlässlich der Ausstellung „Märchen, Mythen und Phantasmen“ von Astrid Mulch und Bernhard Sprute im Deutschen Märchen- und Wesersagenmuseum Bad Oeynhausen am 28.08.2015

„Erzähl mir keine Märchen!“ sagen wir, wenn wir von jemandem nicht belogen werden wollen, missachten dabei aber die Tatsache, dass Märchen keineswegs Lügengeschichten sind, sondern vielmehr Weisheitsgeschichten, die uns in archetypischen Bildern vom menschlichen Leben erzählen – oder neudeutsch ausgedrückt, uns unsere durchaus nicht nur guten Verhaltensweisen in klaren Bildern um die Ohren hauen.

Zwar sind es phantasievoll ausgeschmückte Geschichten, in denen die Wesen der Anderswelt mit den Menschen auf gleicher Ebene kommunizieren und die manch phantastische Wendungen nehmen, aber im Kern sprechen diese alten Erzählungen über unser Leben und besonders über die Sollbruchstellen darin, die zu Konflikten führen können, die uns emotional fordern, die wir bewältigen müssen. Märchen erzählen von unseren Träumen, Sagen von unseren Ängsten und Mythen von der Entstehung der Welt. Es sind Weisheitsgeschichten, deren Alter unbestimmt ist, in unseren Köpfen aber bis heute präsent sind, weil sie uns etwas über das Wesen der Dinge in Bildern erzählen und das auf so zeitlose Weise, dass sie von jeder Generation wieder aufs Neue für sich entdeckt werden können.

In dieser Ausstellung, die wir heute eröffnen, zeigen Astrid Mulch und Bernhard Sprute ihre aktuellen Arbeiten zu Märchen, Mythen und Sagen. Es sind keinesfalls illustrative Arbeiten, denn sie geben nicht direkt den Text einer konkreten Geschichte wieder, vielmehr spiegeln sie etwas von deren Botschaft, sie stellen ihrerseits wiederum Archetypen aus Märchen, Mythen und Sagen vor: Die Königin, der Narr, die Sybille, Daphne, Ariel – der Luftgeist, Arachne - die Spinne, der Vogel, der Berg, die undurchdringliche Dornenhecke usw.

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Kommen wir zu den Bildern (von Bernhard Sprute):

Der Vogel mit dem goldenen Zweig – Das Märchen kennen wir doch alle? Nicht? Oder hieß es „Der goldene Vogel“? Oder holte sich der Vogel einen goldenen Apfel? Mit diesem Bild will Bernhard Sprute uns provozieren, denn diese Geschichte muss erst noch geschrieben werden. Aber mit einem Blick auf das Bild sind uns schon gleich mehrere Geschichten eingefallen. Welch Reichtum! Wir wissen einfach, der goldene Zweig ist etwas Besonderes, das heißt, der Vogel ist kein „normaler“, sondern ein Vogel der Anderswelt, der mehr kann als nur Körner picken. Er ist für uns das Versprechen, dass dahinter eine wunderbare Geschichte steckt.

Ähnlich assoziativ kann man das Bild „Die zwölf Geier“ betrachten. Märchen mit der Zahl zwölf gibt es zahllose, ob nun zwölf Schwäne, zwölf Brüder, zwölf Monate usw., aber die Geschichte um die zwölf Geier darf noch geschrieben werden. Spannend ist bei diesem Bild die Wellenbewegung, die man je nach Standpunkt und Blickwinkel zunächst nur sieht, bevor man die Vogelkörper erkennt. Ist es ein Seestück, wie es die Farbe suggeriert? Ist nicht der gleichmäßige Flug von einem Schwarm Fische oder einer Vogelschar wie eine Wellenbewegung? Wie gut können sich Vögel – zu ihrer eigenen Sicherheit – verstecken bzw. tarnen oder in der Weite des Himmels aufgehen?

Überhaupt: die Vogelgalerie auf dem Flur. Sie zeigt Porträts und Doppelporträts von Vögeln. Mit ihnen lassen sich alle möglichen Märchen, Sagen und Mythen assoziieren. Die verzauberten Brüder, ob nun als sieben Raben oder zwölf Schwäne, ihr Dasein fristen müssen, der Adler, der sich höher in die Luft erheben kann als alle anderen Vögel, der Totenvogel, der Seelenvogel usw. Aber auch der kleine Vogel in der Tasche des tapferen Schneiderleins, mit dem er den Riesen narrt, gehört dazu.

Der Mensch kann – begrenzt – schwimmen wie ein Fisch und laufen wie ein Tier aber frei fliegen wie ein Vogel kann er nicht. Für Bernhard Sprute sind Vögel die leicht flüchtigen Wesen, die er mit seinen Bildern ein wenig bannen möchte.

Kommen wir zu „Similiberg (bis heute)“ – der Berg in scheinbar düsterer Landschaft, bei näherer Betrachtung birgt er ein Geheimnis: am Fuß des Berges sehen wir eine geöffnete Schatzhöhle. Es ist die ewige Geschichte vom unvorstellbar großen Schatz im Berg mit Haufen von Goldstücken, Schmuck und Edelsteinen. Die Grimmsche Geschichte vom Similiberg erinnert an Ali Baba und die vierzig Räuber, aber man kann genausogut an eine der vielen Schatzsagen denken, bei denen der Schatz im allgemeinen weder erreicht noch auf Daue erhalten wird und schon gar kein Glück bringt. Im Similiberg ist der erste zufällige Finder der Schatzhöhle noch schlau und vorsichtig, der zweite dagegen nicht mehr. Über seiner Gier vergisst er das Passwort, um den Berg wieder verlassen zu können, wird von den Besitzern der Höhle erwischt und einen Kopf kürzer gemacht. Wenn wir heute einen Pin-Code vergessen, müssen wir das zum Glück nicht gleich mit dem Leben bezahlen, ärgerlich ist es aber immer!

Zum Schluss noch drei Sätze zu „Dahinter Dornröschen“ – Die blühende Dornenhecke versperrt den Blick auf Dornröschen. Trotzdem haben wir sofort die ganze Geschichte im Kopf. Bernhard Sprute wollte nicht seine zig Vorstellungen von Dornröschen fixieren, ihn interessierte das Farbspiel von rot und grün, das sich durch die vielen Farbschichten steigert. Den Rest dürfen Sie sich selber denken. Übrigens die Urform zu diesem Bild hängt seit vielen Jahren im Theater im Park. Das Gemälde stammt von 1985.

Hanna Dose, Bad Oeynhausen 2015