»Nachtbilder« Rosemarie Sprute

»Trägt nicht alles, was uns begeistert, die Farbe der Nacht?« Novalis

Im Titel der Themenfolge "Nacht- und Tagbilder" bereits angelegt und, weil der sprachlichen Gewohnheit durch die Vertauschung der Begriffe entgegenarbeitend, auffällig ist das Setzen einer Priorität: die Nacht steht dem Tag voran. Dadurch bekommt der Titel nicht von ungefähr, etwa bloß einer eigenwilligen Laune folgend mythische Dimensionen; denn dass die Nacht vor dem Tag war, dass der Tag allererst aus der Nacht hervorgegangen ist, schildert uns schon Hesiod in seiner "Theogonie": Aus dem uranfänglichen Chaos gehen als erste Erebos und Nyx (Nacht) - beide gelten als Inbegriff für die unterirdische Finsternis - hervor, und diese zeugen Aither (Luft, Himmel) und Hemera (Tag). Nyx und Hemera, Nacht und Tag also, bewohnen nun zwar zusammen eine Höhle, halten sich dort aber niemals gemeinsam auf. Immer dann nämlich, wenn Hemera kommt, geht Nyx und v.v. So erklärt uns Hesiod die Tageszeitenpolarität. Ebenso wie Nyx und Hemera gerade wegen ihrer Gegensätzlichkeit eine untrennbare Einheit bilden, so gehören auch die Nacht- und Tagbilder deshalb zusammen, weil in der Regel das die Tagbilder Kennzeichnende auf den Nachtbildern ins gerade Gegenteil umschlägt: Das, was sich dort wild überstürzt, ungestüm hastet, ungezogen schubst und übereinanderdrängelt, verhält sich hier, erscheint gelassen, zurückgezogen, scheu. Und die dort den Augensinn überflutenwollende Buntheit, Eigenleuchtkraft und ungebändigte Lebendigkeit der Spuren, Zeichen, Dinge, Pflanzen, Tiere wird hier zu einem den Gesichtssinn auf andere Weise zur tätigen Auseinandersetzung herausfordernden Entwurf einer Gegenwelt. Denn das Viele, das sich durch seine scharfen, trennenden Konturen, durch seine Intensität der Farbigkeit Bestimmende, sich einfachhin deutlich und ohne Umschweife Zeigende und damit das "Vordergründig-sichtbar-Ausgedeutete" findet sich in der alles an sich haltenden Dunkelheit, in der Einheit der Blau-grau-schwarz-Finsternis auf den Nachtbildern als Angedeutetes, Vages, Zunächst-noch-Ungeschiedenes, als etwas, das gegenüber den Tagbildern, auf denen naturgemäß ein anderes Selbstverständnis der Dinge herrscht, durch noch weiter gesteigerte Konzentration in der Wahrnehmung gelichtet werden will.
Hiermit ist zugleich die neue mit den Nachtbildern an den Betrachter herangetragene Aufgabe umrissen: Die Herausforderung des Dunkels annehmen, die eigene subtile Sehfaulheit überlisten - denn die Nacht lässt sich nicht auf einen bloß stimmungsvollen Gehalt reduzieren! -, sich, seinem Verhalten in der empirischen Nacht entsprechend, zunächst bloß mutmaßend vorantasten und damit gleichzeitig die inneren Vermögen beleben, bis sich die Augen an das sich qualitativ vom unbarmherzig entbergenden Zeigelicht des Tages absetzende, alles Trennende einhüllend aufhebende Nachtlicht gewöhnt haben, so dass das nicht gleich bequem offen zu Tage Liegende sich ganz allmählich offenbaren kann.
Mittlerfunktion zwischen Betrachter und Bertrachtetem übernehmen zum einen die immer wieder plötzlich aus dem Dunkel auftauchenden Tiere wie die Nachtfalter mit ihren mit unzähligen Augen versehenen Flügeln, wie Katzen und Vögel, die, indem sie fast durchgängig als aufgescheuchte, hektisch bewegte, angriffslustige, manchmal aber auch bedrohlich ruhig auflauernde erscheinen, den Betrachter durch die von ihnen verursachten, zum Bild erstarrten und so sichtbar gewordenen Geräusche aufschrecken und die die jedem zumindest noch aus seiner Kindheit bekannte Nachtangst wieder wachrufen. Mittlerfunktion übernimmt auf eine andere Weise auch der häufig auftretende Nachtwanderer: Im Profil, eher zeichen-, schemenhaft erscheinend, schwarz, einsam, ohne hervorgehobene Eigenart, den ambivalenten Charakter der Nacht anzeigend als ein sowohl dem Labyrinth der Nacht Ausgesetzter wie gleichzeitig ein dem Mutterschoß ähnlich bergenden Dunkel Hingegebener, macht er dem Betrachter die Nacht als etwas dem Einzelbewusstsein weithin Übergeordnetes erfahrbar. Deshalb sind vielleicht die nächtlichen Szenen niemals Innen-, sondern immer Außenraumszenen, arm an greifbar gegenständlichem Inhalt und körperlicher Kontur, aber reich an räumlichen Symbolen, befreit von der bedrückenden Enge des geschlossenen Raumes zugunsten des mit der entgrenzten Außenlandschaft verbundenen Freiheitsgefühls.

Dr. Rosemarie Sprute, Kunstwissenschaftlerin, Bad Oeynhausen 1987