»Mustersuche« Rosemarie Sprute

Dieser Düsseldorfer Katalog gibt einen Einblick in die gegenwärtige Arbeitsweise und die aktuellen ästhetischen und thematischen bzw. motivischen Interessen Bernhard Sprutes.

Der Titel „Mustersucher“ kommt unserem Anschauungs- und Vorstellungsbedürfnis freundlich entgegen. Er ist sachlich und einfach und genau deshalb wird die Komplexität des Begriffs unmittelbar evident. „Mustersucher“ ist eine Selbstbezeichnung des Malers und reflektiert die Methode seiner Bildinvention, quasi den Weg seines visuell ausgerichteten Denkens, das ständig und automatisch auf der Suche nach Mustern in unserer Wahrnehmung, nach Modellen visuellen Denkens und deren Korrelation ist und das diese Suche selbst als eine potentiell unendliche Kettenreaktion versteht und hinterfragt.

Mit dem Begriff Muster assoziieren wir in der Regel aneinandergereihte geometrische oder florale Texturen, die sich, oft in abwechselnder Folge, wiederholen.

In Anlehnung an das sinnenfällige Muster wird der Begriff hier im übertragenen Sinn für jedes wiedererkennbare Zeichen verwendet, das in einer Art Netzwerk quasi als schematisches Exemplum mit anderen Zeichen, Formen, Gegenständen in Verbindung steht.

Ein Muster gibt etwa einen Gegenstand, eine Pflanze oder eine Kreatur, zum Beispiel einen Vogel, nicht naturgetreu und im Detail wieder, sondern in einer vereinfachten Form. Diese abstrahierte Form kann zum Beispiel andeuten, wie sich der Vogel befindet. Ist sein Schnabel aufgerissen oder wird - wie im Bild „Vogeltreffen“ - mit den Flügeln agiert, steht dies für Unruhe. Ist die Form des Vogels wie im „Vogelschlaf“ geschlossen, bedeutet dies Ruhe. Diese Muster von Vogel (in diesem Fall Verhaltensmuster) sind Varianten gegenstandsloser Zeichen im Oeuvre Sprutes, in der eine geschlossene Form stets für Ruhe, die offene Form immer für Bewegung bzw. Unruhe steht.

Analog verhält es sich mit dem Bild „Tulpe schläft“. Hier ist eine Tulpe in stilisierter Form dargestellt. Die Blume liegt auf einer Ruhestätte in Gestalt einer weißen Linie auf. Mit ihrem Blütenkopf, der sich zum Schlaf geschlossenen hat, sinkt sie leicht in ihr Bett ein. Durchscheinend und ohne Eigenfarbe nimmt sie die Farb- und Formwelt ihrer Umgebung an. Das mühelose Anpassen der Tulpe an ihre Umgebung, ihr Sichschließen, ihr Sichbetten zur Nacht und die Ruhe und Tiefe ihres Schlafs werden zu einem Modell aus der Welt der Pflanzen, das den Aspekt des Wahrnehmungsmusters aus dem großen übergreifenden Thema akzentuiert, das das Oeuvre Bernhard Sprutes zusammenhält: das Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Im Vergleich zu unserem menschlichen Schlafverhalten visualisiert der Maler sein Wahrnehmungsmuster von Pflanzenruhe und offeriert dem Betrachter, sich mit den Analogiebildungen, die zwischen Blume und Mensch existieren, auseinanderzusetzen.

Alle Muster werden aus einem speziell angefertigten Bilduntergrund heraus entwickelt, der gleichzeitig auch als Bildhintergrund für die räumliche Wirkung eines Bildes mitverantwortlich ist. Seit 2005 wird der Bilduntergrund in einer zunehmend aufwendigeren Technik hergestellt: Starkfarbige Schlieren und gestische Zeichen, zufallende Formen und Formfragmente, Gegenständliches und Kreatürliches werden nebeneinander und übereinander gemalt, werden immer wieder zugemalt, abgedeckt und - nach mehrmaligen längeren Trocknungsprozessen - in letzten Arbeitsgängen mehrfach fast flächendeckend monochrom überstrichen.

Solch ein konzentriert gefügter, formal und inhaltlich vielschichtiger Bildgrund, der in seiner gleichzeitigen Präsenz von unterschiedlichsten natürlichen und künstlichen Formen und Farben einem Augenblick in unserer optischen Wahrnehmung entspricht, ist in der Regel der Starter für die „Mustersuche“. Oft hellblautonig erinnert der Bildgrund nicht zufällig an Wasser und Luft und Himmel, an Atmosphäre, die überall gegenwärtig ist und alles Konturierte umfasst und weich erscheinen lässt. Manchmal ist er auch rosatonig, weil Rosa eine unbestimmte Farbe ist, eine Farbe, die quasi an nichts erinnert. Dieser nahezu monochrome, mit reliefartig erhabenen gegenständlichen und gegenstandslosen Formfragmenten versehene Bildgrund wird zum Gegenstand einer visuellen Suchaktion mit dem Ziel, ein im Vorfeld gefasstes Konzept bzw. Motiv malerisch zu realisieren.

Für Bernhard Sprute ist diese Arbeit vor und mit dem Bildgrund „wie wenn man sich erinnert an Bereiche oder Aspekte, einiges sticht immer vor und das findest du dann“.

Einfache Formen und Spuren auf dem Untergrund lösen Bildassoziationen aus. Dieses Auffinden von Formen (das nicht zufällig an das bekannte Prinzip Leonardos vor der Mauerwand erinnert) und ein optionales Ergänzen ist in langen Übungen erprobt. Es wird durch den jeweiligen konzeptionellen Plan und ein thematisch gebundenes Denken gesteuert und setzt neben Assoziationsfähigkeit, Spiel- und Experimentiertreude einen stark ausgeprägten visuellen Möglichkeitssinn voraus.

Dieser Prozess ist nicht losgelöst von den Farben denkbar, die sich in dem geschichteten Bildgrund finden und, wenn sie nicht schon bloß liegen, teils hervorgekratzt, teils hervorgewischt und in einem abschließenden Arbeitsschritt mit der Tube ergänzt oder ganz aufgelegt werden. Diese aus der Tiefe unter der monochromen Fläche hervorkommenden Farben bestimmen die Verortung im Bildraum und die Valenzen der herausgearbeiteten Dinge und Formen wesentlich mit.

Konzeption und Inhalt eines Bildes können also vom Malprozess nie losgelöst gedacht werden. Die Mustersuche vollzieht sich in einem ständigen Annäherungsprozess zwischen geistiger Konzeption, visueller Aktion und malerischer Realisation.

In anderen Bildern bleibt das einzelne Muster nicht abgeschlossen in sich. Oft wird ein Zeichen wie Tulpe oder Vogel in eine konstitutive Relationalität zu weiteren klar sichtbar gemachten oder bewusst erahnbar gelassenen Zeichen gebracht. Jedes Bildelement erhält dabei seine Valenz nur über die Differenz zu anderen Elementen des gesamten Bildsystems.

Beispielhaft dafür sind etwa die Arbeiten „Hineinschauen“ oder „Fisch über dem Kopf“. Beide machen in spartanisch narrativer Weise die Begegnung von Mensch und Tier zum Gegenstand. Für die Tierwelt stehen Fisch und Vogel, die im Oeuvre Sprutes am häufigsten dargestellten Tiere. Es sind keine besonderen Tiere, nicht exotisch, nicht extravagant, nicht machtvoll. Es sind Tiere, die im Schwarm leben und deren Individualität deshalb nicht ins Auge fällt. Auffällig sind sie erst bei näherem Betrachten, in erster Linie durch ihre funktionellen Formen, die dem Element, in dem sie leben, so vollendet angepasst sind. Darüber hinaus wurden sie bereits in ältesten Kulturen symbolisch außergewöhnlich aufgeladen. Die Vögel gehören dem Luft- und Lichtreich an und symbolisieren die in diesen Sphären wohnend gedachten Götter, Geister und Seelen. Dem Licht zugewandt, bekämpfen sie in den uralten Mythologien die Mächte der Finsternis, in der frühchristlichen Ikonographie stehen sie für Seligen. Die Fische, dem Element Wasser zugehörig, haben eine vieldeutigere Symbolgeschichte. Der Fisch kann göttlich oder dämonisch sein, er kann wie der Vogel auch zum Seelentier werden, steht in der christlichen Ikonographie für Christus und ist in der analytischen Psychologie von C.G. Jung ein Symbol des Selbst.

In Sprutes Bildern erscheinen Mensch und Vogel bzw. Fisch unbestimmt, musterhaft. Mensch und Tier sind auf ihre Köpfe reduziert, also auf den Sitz des Bewusstseins, des Denkens und - hier akzentuiert - des Augensinnes. Sie sind im Profil gegeben, der geistigsten Ansicht des Kopfes. Mensch und Tier agieren quasi kontemplativ. Die beiden Arbeiten „Hineinschauen“ und „Fisch über dem Kopf“ thematisieren unser Wahrnehmungsmuster, das wir vom Tier haben. Darüber hinaus reflektieren sie ein potentielles Wahrnehmungsmuster der Tiere selber. Indem Fisch und Vogel direkt auf bzw. in unsere Köpfe schauen, scheinen auch sie uns auf einer geistigen Ebene zu betrachten. In der Arbeit „Hineinschauen“ ist uns das Tier so nah, dass es uns anrührt und quasi - angezeigt durch die gemeinsame Linie von menschlicher Stirn und Vogelschnabel - mit uns verschmilzt.

Viele Mustersuchbilder setzen sich mit traditionellen kunsthistorischen Motiven auseinander. Sie aktivieren nicht zufällig Themen aus der antiken Mythologie, die besonders in der Malerei der Frühen Neuzeit beliebt waren. Denn in den mythologischen Erzählungen ist es - ähnlich wie im Märchen - ganz gewöhnlich, dass Mensch und Tier miteinander verhandeln.

In der Arbeit „Thétis schläft“ greift der Maler die von Ovid erzählte Geschichte der Nereide Thétis auf. Thétis ist die bekannteste der fünfzig freundlichen Meeresnymphen, die stets als Schwarm auftreten und das Gefolge des Poseidon bilden. Von Jupiter begehrt, aber aufgrund der Weissagung, sie werde einen Sohn bekommen, der den Vater an Stärke überrage, wird Thétis dem sterblichen Peleus überlassen. Durch Verwandlung in Tiere und Pflanzen versucht sich die Nymphe dem Peleus zu entziehen. Im Schlaf wird sie schließlich von ihm, der Hilfe von den Göttern bekam, überwältigt.

Erfindungsreichtum, Verwandlungskunst und das Sicheinpassen in die Natur machen die Figur der Thétis (ähnlich wie die der Daphne) für den Maler in Hinsicht auf Parallelen zum materiellen und intellektuellen Bildentstehungsprozess interessant. Bernhard Sprute fokussiert in seiner Arbeit die Spannung zwischen der Anstrengung der Verwandlung, zwischen der Verfolgung durch Peleus und der Erschöpfung der Thétis, die in ihrem Schlaf gipfelt. Die komplexe Geschichte wird in sparsamer Erzähltechnik auf zwei Zeichen reduziert: auf den Kopf der Nereide, der mit geschlossenen Augen im linken Bildvordergrund aufliegt und auf das Motiv der angriffsbereiten züngelnden Schlange, in der sowohl die Verwandlungskunst der Thètis als auch die aggressive Verfolgung durch Peleus ineinsgebildet sind.

Dr. Rosemarie Sprute, Bad Oeynhausen 2008