»Der Vogel auf dem Kopf« Hans Peterse

Im Jahre 1950 schuf der italienische Regisseur Roberto Rossellini sein filmisches Meisterwerk Stromboli. Auch heute noch, mehr als fünfzig Jahre nach seinem Erscheinen, beeindruckt der Film, sowohl durch die schau- spielerische Leistung Ingrid Bergmans, als auch durch die Bilder der archaischen Landschaft. Ingrid Bergman spielt die Rolle einer Frau, die durch die Ehe mit einem Fischer auf Lebensglück hofft, sich jedoch mit den kargen Lebensbedingungen auf der Vulkaninsel nicht zurechtfindet. Bitter enttäuscht unternimmt sie einen Fluchtversuch, der scheitert. Das Ende des Films ist unterschiedlich bewertet worden. Das Scheitern der Flucht führt zu einer Katharsis: Die Hauptperson erkennt, dass ihre Erlösung nur durch ein Leben innerhalb der Gemeinschaft auf Stromboli (und damit innerhalb der Ehe) möglich ist.

Im Film spielt die Natur Strombolis eine bedeutende, wenn nicht sogar ent- scheidende Rolle. Die Landschaft prägt das Leben der Menschen auf der Insel. Jegliche romantische Verklärung der Natur wird in Stromboli vermieden: Die Natur ist für die Bewohner sowohl ein Segen als auch ein Fluch.

Die Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur ist auch Gegenstand einer neuen Ausstellung des Malers Bernhard Sprute. In der Ausstellung befindet sich ein Bild mit dem Titel “Vogel auf dem Kopf”, das als Schlüssel für das Konzept des Künstlers zu betrachten ist. In einer leuchtenden blauen Farbe malt dieser eine Frau (Rosemarie), die von mehreren Vögeln umgeben ist Ein Vogel sitzt auf dem Kopf der Frau. Seine Flügel sind gespreizt. Die Frau befindet sich in tiefer Betrachtung und in Einklang mit der sie umringenden Natur. Mensch und Tier stellen auf dem Bild eine Symbiose dar.

Für das Motiv “Vogel auf dem Kopf” hat sich Bernhard Sprute vom nieder- ländischen Maler Pieter Bruegel d. Ä. (ca. 1525/30-1569) inspirieren lassen. Von dessen Hand existiert eine Federzeichnung aus dem Jahre 1559 über die Caritas (Liebe), die in der Gestalt einer Frau dargestellt wird. Die Zeich- nung ist Teil eines Zyklus, der den Namen “Die sieben Tugenden oder Werke der Barmherzigkeit” trägt. In der christlichen Theologie ist die Caritas das Sinnbild für die göttliche Liebe. Bruegel greift diese Tradition in seiner Zeich- nung auf, indem er explizit auf die uns von Christus auferlegten Werke der Barmherzigkeit hinweist: Die Hungrigen speisen, die Durstigen laben, die Nackten kleiden, die Kranken besuchen, den Gefangenen beistehen, die Fremden beherbergen und die Toten beerdigen (Matthäus 25: 35-40). Das Attribut der Caritas in der christlichen Ikonographie ist der Pelikan, der auf ihrem Kopf sitzt und sich mit seinem Schnabel die Brust aufreißt. Mit dem eigenen Herzblut nährt der Pelikan seine Jungen im Nest. Das Motiv des Pelikans existiert im Christentum seit dem zweiten Jahrhundert und symbolisiert die Feier der Hl. Eucharistie. Auch in der Darstellung Bruegels sitzt der Pelikan auf dem Kopf der Caritas und reißt sich die Brust auf.

Zahlreiche Heiligenlegenden befassen sich mit dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Am eindringlichsten spielt das Thema in der Vita des Franziskus von Assisi (1181/82-1226) eine Rolle. Im Mittelpunkt seiner Bot- schaft stehen die Begriffe Bekehrung und Erlösung, die er nicht nur auf die Menschen, sondern auch auf die Natur bezieht. In den Augen des Franziskus ist die Natur beseelt. Er betrachtet die Tiere, die Pflanzen, das Feuer, das Wasser, den Wind und die Erde als die Geschöpfe Gottes, die der Erlösung ebenso bedürftig sind wie die Menschen. Dafür sei es aber notwendig, das Wort der Predigt an sie heranzutragen. Thomas von Celano, der erste Biograph des Franziskus von Assisi, erzählt in der Vita prima S. Francisco (1228/29), wie der Heilige eines Tages während einer Wanderung durch das Tal von Spoleto auf eine riesige Menge Vögel verschiedener Arten gestoßen ist. Er ist auf sie zugegangen und hat angefangen, ihnen das Wort Gottes zu verkündigen. Die Vögel - Tauben, Dohlen und Elstern - haben andächtig zugehört und sich sehr gefreut, als Franziskus sie in seiner “Vogelpredigt” als Gottes Kreaturen bezeichnete. Thomas von Celano weist in seinem Buch explizit auf die respektvolle Haltung des Franziskus gegenüber den Vögeln hin. Dessen Demut bedeutete eine radikale Umkehr in der christlichen Tradition, die bis dahin die Macht der Heiligen über die Natur in den Viten hervorgehoben hatte.

Das wichtigste Zeugnis franziskanischer Spiritualität ist zweifelsohne das Sonnenlied. Hierin feiert Franziskus von Assisi die vier Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer als beseelte Teile der Schöpfung, aber auch den Tod als notwendige Bedingung für unsere Erlösung. Thomas von Celano hat in der Vita prima das Verhältnis zwischen Franziskus und der Natur in den folgenden Worten zusammengefasst: “Er nannte alle Kreaturen Brüder und Schwestern, und er durchschaute auf eine hervorragende und anderen unbekannte Weise mit seinem geistigen Scharfblick das verborgene Innere der Geschöpfe als einer, der schon zur Herrlichkeit der Söhne Gottes gelangt war” (zitiert nach Helmut Feld: Franziskus von Assisi und seine Bewegung, Darmstadt 1994, S. 221).

Die Idee von der beseelten Natur ist der Leitfaden der Ausstellung Bernhard Sprutes und zugleich der Brückenschlag zur archaischen, weil vorindustriellen Welt des Franziskus von Assisi. In seinen Bildern kreiert der Maler einen Reigentanz zwischen Mensch, Tier und Pflanze. Der Mensch ist ein Teil der Natur; weder steht er im Mittelpunkt, noch beherrscht er sie. Die Linien der Darstellungen sind kraftvoll geschwungen. Die Motive und die Farben fließen ineinander und führen in eine zweite, halb-offene, halb-verborgene Bilderwelt (das Gemälde hinter dem Gemälde). Assoziationen können sich somit frei entfalten. Der Maler hat die Welt, die wir aus eigener Anschauung kennen, aufgegriffen und umgewandelt. Auf diese Weise ist ein offener Raum ent- standen, der keinen Grenzen ausgesetzt ist und zu neuen Interpretationen einlädt.

Dr. Hans Peterse, Osnabrück 2008