»Raum ohne Grenzen – Jacob van Ruisdael und Bernhard Sprute« Hans Peterse

Im Jahre 1816 veröffentlichte Johann Wolfgang von Goethe seinen Essay "Ruysdael als Dichter". In dieser Schrift betrachtet er drei Gemälde des niederländischen Meisters, die er in Dresden gesehen hatte. Dazu gehörte auch der berühmte Judenfriedhof, der ca. 1655 entstanden ist. Goethe stellt das Bild in seinem Essay jedoch nicht als jüdischen Friedhof dar, sondern als Friedhof eines Klosters. Die Grabmäler in ihrem halbzerstörten Zustand, die umgestürzten Steinplatten, die ehemalige Kirche, die jetzt nur noch eine Ruine ist, und die verwilderte Natur erinnern Goethe an die Vergänglichkeit des Lebens. Zugleich deuten das fließende Wasser im Vordergrund des Bildes und das sich entfaltende Licht auf den ewigen Kreislauf der Natur hin, und setzen somit ein Zeichen der Hoffnung. Goethe bewundert die handwerklichen Fähigkeiten Ruisdaels. Darüber hinaus würdigt er ihn als denkenden Künstler, als Dichter, der in seinen Gemälden die Symbolik zu höchster Vollendung gebracht hat.
Jacob van Ruisdael wurde 1628 oder 1629 in Haarlem geboren. Sein Vater, Isaack van Ruisdael, war Maler, Kunsthändler und Rahmenmacher, ohne große berufliche Erfolge vorweisen zu können. Das Handwerk als Maler lernte Jacob vermutlich von seinem Vater und von seinem Onkel, dem Landschaftsmaler Salomon van Ruysdael, der in Haarlem hohes Ansehen genoss. Haarlem war in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine prosperierende Stadt. Die wichtigsten Wirtschaftszweige waren neben Bierbrauereien die Manufakturen, die sich auf das Bleichen von Leinen und anderen Textilien spezialisierten. Beim Bleichen werden farbige Restsubstanzen aus Leinen und Wolle entfernt, um den gewünschten Weißgrad zu erreichen. Der Tulpenhandel in Haarlem erlitt durch riskante Spekulationen in den 1630er Jahren einen schweren Rückschlag (die berühmte Tulpomanie), konnte sich jedoch später davon erholen.

Jacob van Ruisdael trat 1646, erst achtzehn Jahre alt, mit seinen ersten Landschaftsgemälden in die Öffentlichkeit. Sie sind durch ihre Komposition und die realistische, naturgetreue Darstellung der Bäume und Pflanzen von einer bemerkenswerten Qualität, die Ruisdaels Talent erkennen lässt. Im Jahre 1648 wurde er Mitglied des St Lukas Gilde in Haarlem und konnte sich ab jetzt als Malermeister betätigen. Zwei Jahre später reiste er mit seinem Freund Nicolaes Berchem in die östlichen Regionen der Niederlande (Twente, Achterhoek) und in die Grafschaft Bentheim. Ob die beiden Künstler auch Münster, wo 1648 der Frieden zwischen Spanien und der Republik der Sieben Vereinigten Provinzen zustande gekommen war, besucht haben, ist nicht bekannt. Der Burg Bentheim diente Ruisdael als Motiv für mehrere Gemälde.
Die Kenntnisse über Ruisdaels Biographie sind sehr lückenhaft. Die Hinweise, dass er sich an der Universität Caen zum Doktor der Medizin hat promovieren lassen und neben der Malerei auch als Arzt gearbeitet hat, können nicht bestätigt werden. Weder existiert ein Selbstporträt noch hat er sich von anderen malen lassen. Im Jahre 1657 zog er von Haarlem nach Amsterdam, wo er einige Zeit später das Bürgerrecht erwarb. Angeblich war er nie verheiratet und hatte auch keine Kinder. Stattdessen kümmerte er sich um seinen Vater, den er finanziell unterstützte. In Amsterdam verfügte Ruisdael über Kontakte zur politischen Elite. Zu seinen Gönnern und Auftraggebern gehörte der Bürgermeister und einflussreiche Patrizier Cornelis de Graeff. Ruisdael malte aber überwiegend für den freien Markt. Er starb vermutlich am 10. März 1682 in Amsterdam und wurde in der St Bavo Kirche in Haarlem beerdigt. Sein bekanntester Schüler war der Landschaftsmaler Meindert Hobbema.

beeindrucken durch die Monumentalität der Komposition und die detaillierte Wiedergabe der Natur. Einzelne Bäume und Pflanzen lassen sich spezifizieren. Außerdem enthalten seine Bilder eine reiche Symbolik. Wenn er Menschen malt, dann immer als kleine, fast winzige Figuren, die in der Landschaft integriert sind. Seine schönste Gestalt ist die Frau, die in der Hügellandschaft mit Eiche nachdenklich unter dem Baum sitzt. Der Baum dominiert die Landschaft. Die Idee, dass der Mensch nur vorübergehend auf Erden ist und dem Kreislauf der Natur unterworfen ist, durchzieht wie ein roter Faden die Bilderwelt Ruisdaels. Obwohl er über eine erstaunliche Beobachtungsgabe der Natur verfügt haben muss, ließ er sich für einzelne Motive gelegentlich von anderen Künstlern inspirieren, zum Beispiel von Allart van Everdingen, wenn es sich um die Darstellung von Landschaften mit Wasserfall handelte. Topographisch lassen sich diese Wasserfälle in Norwegen und Schweden nachweisen. Everdingen hatte beide Länder während einer Studienreise im Jahre 1644 besucht. Ab 1660 entstehen die sogenannten Haerlempjes, Panoramabilder, die die Stadt Haarlem und die Küstenlandschaft in der direkten Umgebung darstellen. Mehrere dieser Gemälde enthalten Szenen, die das Bleichen von Leinen zeigen. Die Haerlempjes sind Bilder voller Sehnsucht und lassen den Blick des Betrachters in die Ferne schweifen. Sie sind Ruisdaels Testament.

Bernhard Sprute hat sich als Künstler in verschiedenen Projekten mit dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur auseinandergesetzt. Seine Bilderwelt ist ein Kosmos ohne Grenzen, die dazu einlädt, über den Rahmen des Gemäldes hinauszuschauen, ähnlich wie bei Jacob van Ruisdael. In dieser Hinsicht ist Sprute ein kongenialer Gesprächspartner für den niederländischen Altmeister. Für die Ausstellung "Annäherung an Ruisdael" hat sich Sprute von Gemälden inspirieren lassen, die aus verschiedenen kreativen Phasen des Künstlers stammen und eine thematische Vielfalt darstellen. In einem ersten Schritt hat er eine Zeichnung angefertigt, die seinen ersten, unmittelbaren Eindruck festhält. Die Zeichnungen sind ein integraler Bestandteil der Ausstellung. Anschließend entstanden die Gemälde in einem aufwendigen Verfahren. Sprute hat unterschiedliche Maltechniken verwendet. Am Ende des Prozesses hat er seine Bildkompositionen monochrom überstrichen, ohne dass die Tiefenwirkung dabei verloren gehen durfte. Die Farbe rot symbolisiert in diesem Zusammenhang die Lebendigkeit und Widerspenstigkeit der Natur, die Farbe blau den Himmel und das Meer, Sehnsucht und Ferne. Sprutes Bilder stechen durch Räumlichkeit und leuchtende Transparenz hervor. Sie sind ein gelungener Brückenschlag zu Ruisdael und der niederländischen Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts.

Hans Peterse, Osnabrück 2013

Literatur
Johann Wolfgang von Goethe: Ruysdael als Dichter, in: Goethes Werke, Bd. XII, hg. v. Erich Trunz u.a. (Hamburger Ausgabe), München 1998, S. 138-142; Martina Sitt, Peter Biesboer (Hg.): Jacob van Ruisdael. Die Revolution der Landschaft, Zwolle 2002; Seymour Slive: Jacob van Ruisdael. Master of Landscape, London 2005